Gastbeitrag von Niko Rittenau: Was ist eine gesunde pflanzliche Ernährung?
Im Juni veröffentlichte der Ernährungswissenschafter und VeganNews-Gründer Niko Rittenau im Rahmen seiner Teilnahme am BILLA Good Food Board – einer Experten-Runde zum Schwerpunkt pflanzliche Ernährung, initiiert von der österreichischen Supermarktkette BILLA – das YouTube-Video „Warum sollte sich die Welt pflanzlich ernähren? Alle Gründe auf einen Blick“ zu den ethischen und ökologischen Aspekten der pflanzlichen Ernährung. In diesem Artikel schließt Niko an die Inhalte des Videos an und beleuchtet den gesundheitlichen Aspekt der pflanzlichen Ernährung und klärt darüber auf, worauf man bei gesunder pflanzenbetonter Ernährung achten muss.
Die 3 Aspekte gesunder Kost
Vereinfacht gesagt kennzeichnen drei Aspekte eine gesunde Ernährung: Der wichtigste Aspekt ist die Bedarfsdeckung der lebensnotwendigen (= essenziellen) Nährstoffe, der zweite und ebenfalls sehr wichtige Aspekt ist die Vermeidung von Überzufuhren an Stoffen (an Nährstoffen ebenso wie an Schadstoffen), die in großer Menge gesundheitlich abträglich wirken und der dritte Aspekt ist die ausreichende Zufuhr gesundheitsförderlicher, nicht-essenzieller Stoffe wie sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe, die oft auch als bioaktive Substanzen bezeichnet werden.
Diese drei Parameter können von einer ganzen Reihe an unterschiedlichen Ernährungsstilen erfüllt werden. Diese Erkenntnis führt uns zu einem wichtigen Grundsatz der Ernährungswissenschaft: Es gibt nicht die eine einzige gesunde Ernährungsweise und ebenso auch nicht die eine einzige umweltfreundlichste Ernährung. Vielmehr gibt es ein ganzes Spektrum an gesunden und ungesunden Ernährungsstilen und man kann quasi jede Art der Ernährung – also zum Beispiel jede Art der pflanzlichen Ernährung, aber ebenso ketogene Ernährung oder Paleo-Kost – grundsätzlich gesundheitsförderlich gestalten, wenn man sie entsprechend gut plant, umsetzt und gegebenenfalls supplementiert. Nachfolgend werden alle drei Aspekte gesunder Ernährung besprochen:
1. Die Bedarfsdeckung lebensnotwendiger Nährstoffe
Egal ob mischköstlich mit viel Fleisch und Fisch, flexitarisch mit wenig Fleisch und Fisch, vegetarisch ganz ohne diese beiden Lebensmittelgruppen oder vegan gänzlich ohne tierische Produkte: Die Kernfrage ist immer, ob die jeweilige Ernährungsweise den Nährstoffbedarf des Menschen decken kann. Damit ist gemeint, ob alle für den menschlichen Organismus lebensnotwendigen Substanzen, die dieser nicht selbst produzieren kann, von außen in ausreichender Menge zugeführt werden. Die Abbildung zeigt sämtliche für den menschlichen Organismus essenziellen Nährstoffe; die essenziellen Aminosäuren, die Fettsäuren, die Vitamine und Mineralstoffe. All diese muss man nicht auswendig kennen und man muss auch nicht täglich penibel berechnen, ob man sie alle in ausreichender Menge zuführt. Man muss lediglich wissen, welche dieser Nährstoffe in der eigenen Ernährungsweise, also je nachdem ob man sich zum Beispiel vegetarisch, vegan oder mischköstlich ernährt, potenziell kritisch sind und man sollte auf deren Zufuhr bzw. Supplementierung achtgeben. Alle anderen potenziell nicht-kritischen Nährstoffe führt man ohne gesonderten Fokus bei abwechslungsreicher, kalorienbedarfsdeckender Ernährung automatisch zu.
Ein wichtiger Grundsatz diesbezüglich lautet: Menschen brauchen keine bestimmten Lebensmittel, sondern nur bestimmte Nährstoffe. Auch wenn man es oft anders hört und liest; weder tierische noch pflanzliche Lebensmittel haben per se ein Monopol auf einzelne essenzielle Nährstoffe; oder anders gesagt: Es gibt keinen lebensnotwendigen Nährstoff, den man ausschließlich nur über den Konsum tierischer oder pflanzlicher Lebensmittel erhält. Es ist nicht das Fleisch, das wir brauchen, sondern gewisse Amino- und Fettsäuren ebenso wie bestimmte Vitamine und Mineralstoffe, die im Fleisch stecken, die es aber auch mehr oder weniger dicht konzentriert in unterschiedlichen nicht-tierischen Lebensmitteln gibt. Wir benötigen auch nicht zwingend Milch für unsere Kalziumversorgung oder Fisch für die Jod- und Omega-3-Versorgung. All diese Stoffe stecken natürlich mehr oder weniger dicht konzentriert in diesen Lebensmitteln, aber wir können sie auch abseits dieser Produkte bekommen.
Selbiges gilt auch für viele der Nährstoffe, die man primär mit pflanzlichen Lebensmitteln assoziiert, die durch bestimmte Verarbeitungsschritte wie die Fermentation aber auch in nicht-pflanzliche Lebensmittel integriert werden können. Zwar ist es korrekt, dass man beispielsweise Vitamin B12 überwiegend in tierischen Lebensmitteln findet, oder Vitamin C überwiegend in pflanzlichen, aber beide Vitamine können auch von Bakterien hergestellt werden und somit können durch richtige Fermentationstechniken sowohl B12-reiche pflanzliche Lebensmittel als auch Vitamin-C-reiche tierische Lebensmittel produziert werden.
Da die Lebensmittelindustrie derartige Techniken allerdings noch nicht in ausreichendem Maße einsetzt, wird in der veganen, also quasi rein pflanzlichen Ernährung, ebenso wie in anderen pflanzenbetonten Ernährungsweisen unter anderem ein Vitamin-B12-Supplement empfohlen und in der karnivoren, also quasi rein tierischen Ernährung, ebenso wie in jeder sehr Pflanzen-armen Ernährung unter anderem die Supplementierung von Vitamin C. Entgegen einer weiteren weit verbreiteten Meinung sind „synthetisch“ hergestellte Vitamine wie B12 oder Vitamin C aus Nahrungsergänzungsmitteln ebenso wirksam wie aus einem Lebensmittel und unserem Organismus ist der Ursprung eines Vitamins vollkommen egal, solang die Dosishöhe und die Qualität stimmen.
Dies führt zu einem weiteren Grundsatz: Die Natürlichkeit einer Sache ist weder ein Argument für noch gegen etwas. Die Tatsache, dass ein Nährstoff oder ein Lebensmittel „künstlich“ bzw. „unnatürlich“ ist, sagt nichts über dessen Wert aus. Die Frage ist nicht, ob eine Sache (also in diesem Fall ein Vitamin oder ein Lebensmittel) vermeintlich natürlich oder unnatürlich ist, sondern ob die regelmäßige Zufuhr gesund oder ungesund, umweltschonend oder umweltzerstörend oder ethisch oder unethisch ist. Das sind Bewertungen, um die wir uns in Sachen Humanernährung kümmern sollten, und nicht um die Natürlichkeit. Diese als Argument für etwas zu benutzen wird als Natürlichkeitsfehlschluss bezeichnet.
2. Die Vermeidung von Überschüssen an Stoffen mit schädlicher Wirkung in zu hoher Dosis
Dies betrifft sowohl Nährstoffe als auch Schadstoffe. In diesem Kontext gilt ein weiterer Grundsatz der Ernährungswissenschaft: Grundsätzlich kann jeder Stoff schaden und es ist lediglich eine Frage der Dosishöhe. Schon Paracelsus schrieb dazu: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Daher ist es so wichtig, sich zum besseren Verständnis die in der Abbildung illustrierte sogenannte u-förmige Risikokurve einzuprägen.
Das Risiko ist sowohl bei starker Unter-, als auch starker Überversorgung hoch und reduziert sich je weiter sich die Zufuhrhöhe in Richtung der Zufuhrempfehlungen bewegt. Eine Optimalzufuhr ist dabei kein einzelner Punkt, sondern eine gewisse Spanne an Zufuhrmengen mit unterschiedlicher Breite; je nach jeweiligem Nährstoff. Ziel sollte es sein, im Wochendurchschnitt die Zufuhrempfehlungen der Nährstoffe zu erreichen und nicht weit darunter zu liegen, aber ebenso auch sicherzustellen, dass man die langfristige tägliche Maximalzufuhr der einzelnen Nährstoffe im Wochendurchschnitt nicht maßgeblich überschreitet. Auch bei gängigen Stoffen in unserer Ernährung, bei denen weitestgehender Konsens über deren gesundheitlich abträgliche Wirkung bei hohen Zufuhrmengen besteht, ist es dennoch eine Frage der Dosis und nicht jede Menge schadet.
Daher sind weder Zucker, Alkohol, Koffein, gesättigte Fettsäuren oder andere im Übermaß zugeführte Substanzen in der Ernährung zwingend zur Gänze zu streichen, sondern es gilt, die von den Fachgesellschaften für diese Stoffe festgelegten Grenzwerte einzuhalten und insgesamt eine gesunde Ernährung zu pflegen, da – und auch dies ist ein weiterer Grundsatz der Ernährungswissenschaft – die Gesamtheit der Lebensmittelauswahl über die Wirkung einzelner Komponenten innerhalb der Ernährung entscheidet. Lebensmittel sind stets als Gesamtpaket zu betrachten und sollten nicht reduktionistisch anhand einzelner Komponenten betrachtet werden. Unterschiedliche Stoffe in Lebensmitteln können synergetisch oder antagonistisch wirken und daher sind Studien mit isolierten Stoffen stets mit Skepsis zu betrachten. Es gibt – und das ist natürlich sehr plakativ ausgedrückt – keine ungesunden Lebensmittel, sondern nur ungesunde Ernährungsweisen. Denn ebenso wenig wie ein vermeintlich gesunder Apfel pro Tag den gesundheitlichen Wert einer ansonsten katastrophalen Ernährung kompensieren kann, wird aus gesundheitlicher Sicht auch der mäßige Konsum von Süßigkeiten oder anderen vermeintlich ungesunden Lebensmitteln im Rahmen einer insgesamt gesunden Ernährung unter Beachtung der hier vorgestellten drei Aspekte ebenso keine gesundheitlich abträglichen Effekte erzielen. Oder vereinfacht gesagt: Wenn die Ernährung insgesamt gesund konzipiert ist, ist es unserem Körper vollkommen egal, ob man nun täglich einen Schokoriegel isst oder nicht. Selbst Stoffe, die als krebserregend gelten, sind es nicht per se, sondern nur ab gewissen Konzentrationen.
3. Die ausreichende Zufuhr bioaktiver Substanzen
Hiermit ist gemeint, dass es abseits der lebensnotwendigen Nährstoffe, deren Fehlen nicht mit dem Leben vereinbar ist, noch weitere Substanzen in unserer Nahrung gibt, die zwar keine akut lebensnotwendige Aufgabe erfüllen, die aber bei kontinuierlicher Zufuhr auf lange Sicht unser Risiko für bestimmte Krankheiten reduzieren und somit unserer Gesundheit zuträglich sind. Hierzu zählen vor allem zwei Gruppen an Stoffen: Sekundäre Pflanzenstoffe und Ballaststoffe. Beide kommen quasi ausschließlich in pflanzlichen Lebensmitteln vor und sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach der mitunter bedeutendste Grund, weshalb vollwertige pflanzenbetonte Ernährungsweisen in Studien mit besserer Gesundheit bzw. einem geringeren Krankheitsrisiko für eine ganze Reihe an chronisch degenerativen Erkrankungen wie Herzerkrankungen, gewissen Krebsarten, Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck und vielen weiteren assoziiert werden.
Sekundäre Pflanzenstoffe sorgen für die kräftigen Farben in Obst und Gemüse, aber ebenso auch für ihr Aroma und ihren Geruch. Die Studienlage ist noch nicht umfangreich genug, um genaue Zufuhrempfehlungen für einzelne sekundäre Pflanzenstoffe zu geben und es sind auch längst noch nicht alle überhaupt entdeckt, aber die Empfehlung „Iss den Regenbogen“ hat sich trotz der noch unzureichenden Datenlage als guter Richtwert etabliert. Wie die Abbildung zeigt, sollte man zumindest wöchentlich Obst, Gemüse, Kräuter und Gewürze in allen Farben des Regenbogens essen.
Anthocyane aus Heidelbeeren und Rotkohl wirken beispielsweise antikanzerogen, antimikrobiell, antioxidativ, antithrombotisch, immunmodulierend, blutdruckregulierend, entzündungshemmend und blutzuckerregulierend und so erscheint es nachvollziehbar, das ein regelmäßiger Verzehr von Blaubeeren so viele gesundheitliche Vorzüge abseits der Zufuhr der essenziellen Nährstoffe mit sich bringt. Der Begriff »sekundäre Pflanzenstoffe« wurde erstmals vor etwa 100 Jahren vom Pflanzenphysiologen und Nobelpreisträger Albrecht Kossel verwendet und bezieht sich darauf, dass diese Stoffe nicht zu den energieliefernden primären Pflanzenstoffen, also Fett, Eiweiß und Kohlenhydrate gehören. Ihre gesundheitliche Bedeutung für den menschlichen Organismus ist allerdings keineswegs zweitrangig. Auch Ballaststoffe sind gesundheitlich wertvoll und alles andere als Ballast für unseren Organismus. Ballaststoffe kommen ebenfalls in mehr oder weniger hoher Konzentration in quasi allen vollwertigen pflanzlichen Lebensmitteln vor. Sie verlängern das Sättigungsgefühl und beugen so dem Überkonsum von Kalorien vor. Sie beeinflussen außerdem den Kohlenhydratstoffwechsel positiv, indem sie Blutzuckerspitzen unterbinden, sie können den Cholesterinspiegel und damit das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen senken und können Funktionsstörungen des Darms, wie zum Beispiel Verstopfung vorbeugen. Daher gilt laut der deutschen und der österreichischen Ernährungsfachgesellschaft eine Mindestzufuhr an Ballaststoffen in Höhe von 30 g pro Tag. Diese Mindestzufuhrwerte erreicht allerdings ein großer Teil der österreichischen und der deutschen Bevölkerung nicht und damit geht ein wichtiger positiver Einflussfaktor auf deren Gesundheit verloren.
Schlussfolgerung
Wie groß der Einfluss einer gesunden Ernährung auf die menschliche Gesundheit ist, zeigt eine 2022er Studie (doi 10.1371/journal.pmed.1003889) in Hinblick auf die Lebenserwartung: Die in der Studie als „optimale Ernährung“ charakterisierte Ernährung war (wenn sie mit Beginn der 20er Jahre begonnen wurde) mit einer Erhöhung der Lebenserwartung um durchschnittlich 10 Jahre assoziiert. Selbst ein Umstieg auf eine gesunde Ernährung in den nachfolgenden Jahrzehnten erhöhte die Lebenserwartung aber ebenso noch um mehrere Jahre und daher ist es (fast) nie zu spät für eine positive Veränderung. Was die Wissenschaftler in der Publikation als optimale Ernährung beschrieben deckt sich weitestgehend mit den Empfehlungen jeder einzelnen Ernährungs- und Gesundheitsgesellschaft rund um den Globus: Eine überwiegend pflanzliche, vollwertige Ernährung mit einem hohen Anteil an Vollkorngetreide, Hülsenfrüchten, Obst, Gemüse und Nüssen, sowie ein moderater Verzehr an Omega-3-reichen Fischen, ein nur moderater Verzehr an Fleisch und anderen tierischen Lebensmitteln und deutlich weniger zugesetzter Zucker, weniger Weißmehl und weniger rotes und verarbeitetes Fleisch, als es derzeit üblich ist. Dass man jedoch selbst den hervorgehobenen tierischen Lebensmittelanteil in Form von Fisch für die Omega-3-Bedarfsdeckung grundsätzlich umgehen kann, zeigt der ausführliche Omega-3-Artikel auf VeganNews. Fische akkumulieren in ihrem Gewebe lediglich jene Fettsäuren im Laufe der Nahrungskette, die ursprünglich von Mikroalgen und marinen Pilzen produziert wurden und somit sind sie gar nicht die eigentliche Quelle hierfür. Somit spricht bei guter Umsetzung nichts gegen und sehr viel für eine pflanzliche Ernährung, die sowohl gut für das Individuum, die (Welt)Bevölkerung, die Umwelt und alle anderen nicht-menschlichen Tiere ist.
Weitere Informationen zum Thema der gesunden pflanzlichen Ernährung gibt es im Standardwerk “Vegan-Klischee ade!“ von Niko Rittenau sowie in den Ernährungsvideos auf seinem YouTube-Kanal.
Autor: Niko Rittenau
Titel: Vegan-Klischee ade!
Verlag: Ventil Verlag
ISBN: 3954531895